Matthias Rant
Matthias Rant, Präsident des Hauptverbandes der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen Österreichs
© Gregor Buchhaus

Duell der Gutachter

Bauprozesse sind heute reine Gutachterprozesse, auch wenn das mancher nicht gerne hört, sagt Matthias Rant, Präsident des Hauptverbandes der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen Österreichs. Gerade im Metallbau, wo sich die Toleranzen im Millimeter-Bereich bewegen, ist eine durchgängige Beweisdokumentation vor Gericht enorm wichtig.

a3BAU: Sie sind Präsident des Hauptverbandes der Gerichtssachverständigen Österreichs. Wie sehen Sie die Entwicklung: Gutachten – Gegengutachten. Vor Gericht findet sozusagen ein Duell der Gutachter statt …

Matthias Rant: Bei den Fällen, die tatsächlich zu Gericht gehen, hat das Privatgutachten eine andere Bedeutung bekommen. Heute ist es so, dass der Gerichtsgutachter zu einem Privatgutachten zumindest Stellung nehmen muss und begründen sollte, warum das jeweilige Privatgutachten nicht richtig ist. Früher hat gegolten, was der Gerichtsgutachter gesagt hat, Privatgutachten wurden vor Gericht kaum wahrgenommen.

Das heißt, es gab kaum ein Gegengewicht zum Gerichtsgutachter?

Der Gerichtsgutachter und der Privatgutachter sind zwar noch immer unterschiedlich in der Hierarchie, aber wenn der Privatgutachter fachlich kompetent ist und die Dinge in einer Form auf den Tisch bringt, dass der Gerichtsgutachter nicht daran vorbei kann, dann wird sich das Blatt natürlich wenden. Und um das geht es heute bei Gericht. Letztlich muss der Richter überzeugt sein, dass seine Entscheidung richtig ist. Nachdem er meist selbst keine fachlichen Kenntnisse hat, muss er sich auf seinen Gutachter verlassen. Die Bauprozesse sind heute reine Gutachterprozesse, auch wenn man das nicht gerne hört.

Der Auswahl des Gutachters spielt damit eine gewichtige Rolle …

Die Auswahl des Gutachters ist eigentlich eine große Verantwortung. Natürlich spielt es eine Rolle, ob ein Gutachter in einem Metier einen sehr guten Namen hat, weil er auf diesem Gebiet viele Gutachten erstellt. Die Rechtsanwälte suchen sich diese Leute gezielt heraus. Jetzt kann man nur hoffen, dass sich auch der Richter einen Gutachter holt, der auf dem jeweiligen Gebiet besonders fit ist – er sollte das zumindest tun. Die Auswahlverantwortung ist im Übrigen auch bei der Bauherrenschaft sehr hoch, wird heute aber leider mit Füßen getreten. Den richtigen Projektleiter oder Architekten auszuwählen, ist eine große Verantwortung. Wenn ich mir den falschen aussuche, geht das ganze Projekt schief. Und genauso ist das auch beim Richter. Wenn sich der einen Sachverständigen holt, der der Sache nicht gewachsen ist, geht der ganze Prozess in die Hose.

Im Metallbau scheint vielen der Unterschied zwischen Gewährleistung beziehungsweise Mangel und Instandhaltung nicht klar zu sein. Sehr oft werden vom Metallbauer Leistungen im Rahmen der vermeintlichen Gewährleistung eingefordert, die eigentlich unter Instandhaltung fallen …

Im Metallbau ist das sicher so. Der Mangel ist ja evident vor oder bei der Übergabe, das heißt, die Leistung oder das Produkt, das im Werkvertrag bestellt worden ist, entspricht nicht. Wenn es einen Mangel gibt, auch wenn dieser erst kurz nach der Übergabe erkennbar ist, dann wird man diesen beheben. Aber im Metallbau sind es – wie Sie richtig sagen – oft Handhabungsfehler, die vermeintlich als Mangel bezeichnet werden. Der Klassiker ist die falsche Handhabung von Dreh-Kipp-Beschlägen, dann verbiegen sich gerade bei schweren Elementen Teile. Das ist natürlich ein Mangel, aber nicht durch den Einbauer, sondern durch den Nutzer verursacht. Genauso wie all diese Schimmel-Geschichten. Ein erheblicher Anteil der Bauschaffenden unterscheidet nicht zwischen Gewährleistung und Instandhaltung. Wenn etwas nicht funktioniert, heißt es schnell, der Hersteller ist schuld, auch wenn er es nicht ist. Aber solche Prozesse gehen meist nach hinten los, weil der Richter das natürlich erkennt und ein guter Anwalt wird ihn beraten, dass das Unsinn ist.

Was können Metallbauer tun, um nicht in diese „Gewährleistungsfalle“ zu tappen. Ist es ein Versäumnis der Branche, dass sie den Benützer zu wenig aufklärt?

Da treffen Sie einen Nerv bei mir. Schon bei Erbringung der Leistung wird eine ordentliche Dokumentation verabsäumt. Die Metallbauer kommen auf die Baustelle und überprüfen zu wenig, ob alle Voraussetzungen für einen ordnungsgemäßen störungsfreien Einbau geschaffen wurden. Erst wenn der Metallbauer auf ein Problem stößt, erkennt er, dass er auf das vorige Gewerk gar nicht ordentlich anarbeiten kann. Das ist schon einmal der erste Fehler. Daher: Rechtzeitig dokumentieren und dem Auftraggeber gegenüber kundmachen, dass etwas nicht in Ordnung ist, gerade bei den geringen Toleranzen im Metallbau. Auch der Einbau ist zu dokumentieren. Bleiben wir bei Fenstern, dem Metallbau und nehmen wir die Anschlüsse her. Sie haben hochwertige, perfekt gedämmte Fenster, die innen ausgeschäumt sind. Nützt alles nichts, wenn der Anschluss nicht ordnungsgemäß gemacht wurde. Die Dokumentation über den ordnungsgemäßen Abschluss ist ganz wichtig. Wenn die Oberflächen nachher geschlossen sind und das Fenster ist nicht in Ordnung, kann der Metallbauer dokumentieren, dass er gar nichts dafür kann.

Wie sieht es mit der Einweisung aus?

Auch die Einweisung bei Übergabe, wie der Gebrauch der Fenster oder der Fassade etc. zu handhaben ist, schriftlich oder mündlich, kann dokumentiert werden: Wann wer eingewiesen wurde, was man in der Benutzung tun oder nicht tun sollte. Und wenn es drei Jahre später ein Problem gibt, dann kann der Metallbauer beweisen, was er alles wann wem gesagt hat. Diese Kette zeigt, dass wir heute die Prozesse vom Beginn des Bauwerks bis zum Ende und zur Nutzung viel mehr einhalten müssen. Das ist etwas Neues. Jeder macht seine Sache ordentlich und dazwischen ist Wilder Westen. Da passieren viele Fehler, Divergenzen, Versäumnisse. Oft ist es ja nicht bösartig, sondern mangelndes Wissen. Wenn ich die Prozesskette bis zur Gebrauchsfähigkeit ordnungsgemäß einhalte, spare ich Geld, sehr viel Ärger und das Produkt wird besser, weil es mängelfrei ist.

Schon vor Vertragsunterzeichnung die genaue Dokumentation offenzulegen, und dem Auftragnehmer zu signalisieren, dass es da nichts herauszuholen gibt im Nachhinein, könnte dazu führen, dass man einen Auftrag verliert. Der Wettbewerbsdruck ist im Metallbau sehr hoch …

Das ist ein Problem, gar keine Frage. Bauträger und Generalunternehmer oder überhaupt Auftraggeber quetschen ihre Subunternehmer und Auftragnehmer finanziell aus. Wir reden zwar seit zwanzig Jahren vom Bestbieterverfahren, aber in Wirklichkeit wird es immer der Billigste. Und weil das jeder weiß, bietet er halt das Minimum an, es sei denn er hat einen treuen Auftraggeber, der lieber ihn beaufragt, weil er weiß, dass alles ordnungsgemäß ausgeführt wird. Im freien Wettbewerb ist das alles nicht drinnen. Da passiert es oft, dass für den Einbau nicht die entsprechenden Fachleute vorhanden sind, weil der Preisdruck so groß ist. Es wird bei allem und jedem gespart. Auf die Baustelle zu fahren und alle Voraussetzungen vorab zu prüfen, das kostet Geld. Meist wird das eingespart nach dem Motto: „Es wird schon in Ordnung sein“ Und von zehn Fällen ist es auch in drei oder fünf Fällen in Ordnung, aber in allen anderen Fällen kommen Mängel dabei heraus. Ich befürchte aber, dass die neue Vergabeordnung, wo man  mehr auf den Bestbieter setzen will, das nicht ändern wird, weil meines Erachtens die innere Einstellung nicht da ist. Da bin ich wieder beim Thema Bauherrenverantwortung.

Wie verbindlich sind die Önormen nun tatsächlich vor Gericht?

Die Einhaltung aller Önormen im Wohnbau verursacht erhebliche Kosten, darüber sind sich alle einig. Die ökonomischen Meinungen schwanken zwischen zehn und 15 Prozent, um die man billiger bauen könnte, wenn man nicht immer alle Önormen einhalten müsste. Das traut sich aber heute keiner. Früher hat die Handwerkerehre gegolten, und die Bauten von damals sind oft besser gebaut als die heutigen. Wobei das ist ein anderes Thema, weil wir heute Baustoffe haben, die sich auf der Baustelle konterkarieren. Es ist auch das Allerbequemste zu sagen: „Wir haben die Önorm eingehalten“. Dann ist alles in Ordnung. Wenn man die Önorm nämlich nicht einhält – was man ja dürfte, wenn sie nicht im Vertrag verbindlich erklärt wurde – dann muss man sich viel komplizierter verteidigen, um darzulegen, dass das Produkt trotzdem in Ordnung ist, obwohl man die Önorm nicht eingehalten hat.

Wie oft kommt das bei Gerichtsverfahren vor?

Das kommt sehr oft vor, gerade bei Abdichtungen und Toleranzen – ist das noch zulässig, ist das nicht mehr zulässig? In einem überwiegenden Teil der Verträge sind die Önormen verpflichtend einzuhalten, weil es wie gesagt das Bequemste ist. Und es geht sogar noch einen Schritt weiter: Selbst, wenn die Önormen im Vertrag nicht vereinbart worden sind und es kommt zu einem Prozess, was wird der Sachverständige tun? Er wird in die Önorm hineinschauen, weil die Önorm zu einem gewissen Teil die Regel der Technik ist und das, was üblich ist. Sie sehen: Auch wenn die Önorm nicht vereinbart ist, sie kommt durch die Hintertür.

Wie verändert sich die Beweisdokumentation in technischer Hinsicht – Stichwort elektronisches Gutachten?

Die Digitalisierung im Baugeschehen ist unglaublich stark spürbar. Seit drei Jahren ist eine richtige Digitalisierungswelle in der Bauindustrie zugange, weil das die primäre ökonomische Möglichkeit zur Effizienzsteigerung ist. Wenn die Bauindustrie in zwei, drei Jahren durchgängig digitalisierte Prozesse hat, dann wird sie das weiter geben an ihre Subunternehmen. Wenn dann jemand bei der Strabag oder der Porr anbieten will, werden diese digitalen Prozesse eingehalten werden müssen. Vielleicht wird der einfache Hausbau sozusagen ausgenommen sein, aber kein Architekt zeichnet heute auf Papier. Mit dieser Entwicklung werden die Prozesse ganz anders laufen, das geht in jeden Betriebsablauf hinein. Damit hat auch das Wort Dokumentationen einen ganz anderen Inhalt. Vor fünf Jahren hat man noch gesagt, wenn jemand verantwortlich ist als Bauleiter, dann macht er 5.000 Fotos, und dann gibt es noch 5.000 E-Mails und das alles legt er auf den Server. Und wenn jemand was braucht, dann findet er das oder auch nicht. Durch die Digitalisierung werde ich alles dokumentiert haben, sofort finden und auch für den Betrieb des Bauwerks nützen können. Das ist eine ganz andere Dimension und Qualität.

Welchen Vorteil bietet das elektronische Gutachten?

Unser Büro hat die bislang größten elektronischen Gutachten in Österreich durchgeführt. Bei einer Fusion zweier Elektronikkonzerne bestand die Aufgabenstellung des Gerichtes darin, fast 5.000 Bauwerke und Anlagen, untergliedert in 95 Einzelbereiche, im Detail und systematisiert zu dokumentieren. Da ging es um die Bewertung der Gebäude, aber auch die Dokumentation der Abnützung und Mängel. Dies wurde in vollelektronischer Form im Rahmen einer Internet-Homepage mit Zugangszertifikaten gelöst. Mit dieser Beweissicherung konnten sich die Konzerne ruhigen Gewissens vergleichen und mussten nicht Lotterie spielen. Damit haben sie sich viel Zeit und eventuelle Prozesskosten erspart.

Das elektronische Gutachten ist ein Arbeitsmittel des Gutachters. Wie können Auftragnehmer das für sich nützen?

Ein gutes Beispiel ist der Flughafen Wien. Wenn wir nicht die Beweissicherung in Form eines elektronischen Gutachtens gemacht hätten, wäre aus dem Flughafen Wien wohl Berlin und nie fertig geworden, weil die Bedingung nach dem Skandal und dem Planungsstopp war: In einem Jahr mussten alle Mängel, Streitigkeiten und Schadensersatzforderungen beseitigt sein, solange waren die Verträge gültig und man konnte fertigbauen. Ansonsten wären die Verträge ausgelaufen. Was war das Wesentliche dabei? Zum einen ein enormer Zeitdruck, und dann muss man genau schauen, weshalb die Leute bei Bauprozessen streiten … in 70 Prozent der Fälle geht es um die Frage: Wie ist es denn wirklich gewesen, was war auf der Baustelle da draußen los? Man muss sich das wie ein Mosaik mit 1.000 Steinchen vorstellen, von dem aber nur mehr 100 da sind. Der Rest des Bildes ist leer. Wir schließen aufgrund der Beweisdokumentation von den 100 Steinchen darauf, wie das komplette Mosaik ausgesehen hat. Die Rechtsfrage ist dann relativ leicht zu klären und danach auch die Schuldfrage und die Ökonomie. Aber ich muss zuvor klären, wie es wirklich war. Wenn ich eine gute Dokumentation habe, kann ich das darstellen. Wir hatten am Flughafen 3.800 Räume mit unterschiedlichen Bauzuständen – von Rohbau bis fix und fertig eingerichtet –1.000e Schriftstücke, 10.000e Fotos und Schriftsätze von den Parteien. Alle diese Unterlagen haben wir digital organisiert, sodass man darstellen konnte, in welchem Zustand sich Decken, Wände etc. in den Räumen befunden hatten, um die Mängel zu klären.

Die Dokumentation  wurde zu einem Zeitpunkt gemacht, als bereits die Gerichte tätig waren …

Das ist richtig. Beim Skylink war es eine Notmaßnahme, um dieses Jahr einhalten zu können. Und damit ist auch alles geklärt worden, bis vielleicht auf fünf Prozent, wo man sich verglichen hat. Wenn ich die Dokumentation wie eingangs beschrieben, bei einer Baustelle laufend mache, dann brauche ich gar keinen Prozess. Weil wenn jemand später behauptet, der Estrich unter dem Parkettboden ist nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden, kann ich dokumentieren, dass zwar Risse da waren, die aber ordnungsgemäß verdübelt worden sind, weil man das auf den Bildern sieht. Damit tritt gar kein Streit auf. Ein Gutachten hat ja immer einen Befund und eine gutachterliche Äußerung, die nur über das stattfinden darf, was im Befund dargelegt wird. Diesen Befund kann ich ja laufend selbst machen als Auftragnehmer, dafür brauche ich keinen Gutachter. Wenn ich meine Leistung Metallbau dokumentiere, alle Fehler und Intoleranzen und deren Behebungen, und warum man in der Terminplanung zwei Wochen verloren hat – dann gibt es gar keinen Prozess.

Das alles ist möglich mit docu tools?

Die Idee zu dieser Software ist beim Flughafen-Projekt entstanden und seither schon wesentlich verbessert worden. Über 20 Leute sind mittlerweile in der Entwicklung und im Vertrieb tätig. Die Strabag hat uns als Konzernsoftware, auch andere große Bauindustrien, die Stadt Wien wegen der Sicherheitstechnik, die großen Hausverwaltungen. Ideal ist die Dokumentation auch bei der Umsetzung der Önorm B 1300 zur Überwachung der Immobilien, weil ich die ganze Entwicklung dokumentiert habe. Da spare ich nicht nur Geld, sondern sichere mich auch ab gegen ungerechtfertigte Vorwürfe, Haftungen und dergleichen. Ein Handwerker muss sich heute ja gegen so viele ungerechtfertigte Vorwürfe wehren, das kostet Zeit und Geld. Und wenn er nach einem Jahr nachgewiesen hat, dass er nicht schuld ist, bekommt er vom anderen nichts. Dieser beschuldigt ihn nur nicht mehr, aber die Stunden, die der Handwerker gebraucht hat, um sich zu wehren, die sind weg.

Dr. Matthias Rant ist Sachverständiger und Zivilingenieur spezialisiert auf die Bewertung von Immobilien und Gutachten im Bauwesen, Bauschäden, Bauabwicklung.