Resiliente Architektur

Im Gespräch mit Uta Pottgiesser und Jörg Finkbeiner erörterte Fachjournalist Tim Westphal Aspekte ressourcenschonender und dauerhafter Architektur. a3Bau-Autor Alexander Peer fasst ein best-of dieses Talks zusammen.

Porträt PottgiesserUta Pottgiesser ist unter anderem seit 2004 Professorin für „Baukonstruktion und Baustoffe“ an der TH OWL, seit 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für „Heritage and Technology“ an der TU Delft und Vorsitzende von DOCOMOMO International.

Porträt FinkbeinerJörg Finkbeiner ist seit 2006 Geschäftsführer und Büropartner von Partner & Partner Architekten in Berlin, war viele Jahre in der Lehre tätig und ist seit 2011 „Cradle-to-Cradle“-Consultant.

Das komplette Interview zum Nachhören

a3 Bau/Tim Westphal: Frau Pottgiesser, wie groß ist die Achtung vor den Gebäuden der jüngeren Architekturgeschichte in der Gesellschaft – im Speziellen beim Bestand nach 1945? Und was sind hier die Herausforderungen?

Pottgiesser: Im Allgemeinen und aktuell ist die Wertschätzung in der Gesellschaft noch sehr gering, abgesehen von einzelnen Gebäuden vielleicht. Wir haben vor Kurzem in einem Treffen der deutschen Docomomo-Arbeitsgruppe zusammengesessen. Dabei ging es darum, wie Gebäude zu beschreiben sind, die wir für einen internationalen Bauwerks-Katalog zusammenstellen wollen. Unsere Arbeitsgruppe hat dabei sehr bewusst vor allem Nachkriegsgebäude erwähnt. Wir denken dann oft an die Ikonen, die herausragenden Gebäude. Wohl jeder kennt beispielsweise die Philharmonie, die Neue Nationalgalerie, die Akademie der Künste in Berlin oder das Olympiastadion in München. Wenn solche „Highlights“ aufgerufen werden, ist das etwas Besonderes. Dennoch bleibt festzustellen, dass der Gebäudebestand aus der Nachkriegszeit zu einem sehr großen Teil aus eher gewöhnlichen Bauwerken besteht. Nehmen wir den Wohnungsbau, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren entstanden ist. Diese Zeit wird oft als Zeit des Mangels beschrieben. Trotzdem wurden diese Gebäude effizient und in traditioneller Bauweise errichtet. Hierbei entstanden mit geringem Flächenaufwand recht hochwertige Wohnräume. Typologisch und in sozialer Hinsicht hat man mit diesen Bauten an die Moderne der Vorkriegszeit angeknüpft. Konzeptionell, anders von der Bauaufgabe und der Bauweise, stellen sich die Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre dar. In der Öffentlichkeit werden diese Gebäude ebenfalls als nicht so hochwertig angesehen, oft wegen der eingesetzten Materialien, hoher Vorfertigungsgrade und geringer Energieeffizienz. Diese Einschätzung ist aber nur selten gerechtfertigt, denn auch in dieser Zeit sind innovative und funktionale Wohnungsbauten entstanden.

Herr Finkbeiner, warum empfinden im Umkehrschluss so viele die Architektur der vergangenen Jahrhunderte – Renaissance, Barock, Jugendstil – als viel erhaltenswerter als die jüngere Architektur?

Finkbeiner: Das ist eine sehr interessante Frage. Spontan fällt mir dazu eine Rede von Wolfgang Thierse im Deutschen Bundestag ein, in der Diskussion über die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses. Er meinte damals sinngemäß, er sei für den Nachbau, denn „moderne Architektur“ hätten wir am Potsdamer Platz jetzt genug! Dass man die Debatte damit ein wenig eindimensional führt, mag in der Natur der Sache liegen. Aber vielleicht spiegelt das unsere Gesellschaft in der aktuellen Situation wider: Wir befinden uns inmitten einer umfassenden Transformation. Alles ist in Bewegung, das sorgt ebenso für Verunsicherung. Vielleicht führt das zu einem gewissen nostalgischen Reflex, nach dem Motto „früher war alles besser“. In den 1950er und 1960er Jahren standen Gründerzeit-Bauten am Prenzlauer Berg in Berlin nicht so hoch im Kurs wie heute: knarzende Dielen, dreieinhalb Meter hohe Decken… Man wollte lieber zentralgeheizte Wohnungen mit fließendem Warmwasser. Daher kann man nicht pauschal sagen, dass die aktuelle Haltung zu historischer Architektur eine grundsätzliche wäre, sondern sie ist eher eine Haltung des herrschenden Zeitgeists.

Welchen Stellenwert sehen Sie für die Architektur aus der Zeit der 1950er, 1960er und 1970er Jahre?

Finkbeiner: Wir blicken auf dieses Thema neben baukulturellen Aspekten natürlich genauso durch die Brille des Ressourcenschutzes. Bei einem aktuellen Projekt, dem „Zillecampus“ in Berlin-Charlottenburg, haben wir es mit einer Mischung aus Bestandserhaltung, Aufstockung und Ergänzung zu tun. Ein Grundstück mit einem Verwaltungsbau aus dem Jahr 1958, das mit weiteren Büroflächen nachverdichtet werden soll. In der Auseinandersetzung mit dem Bestand stellen wir einerseits fest, was im Sinne eines nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen bisher oft falsch gemacht wurde: Diese Gebäude wurden nur bedingt kreislaufgerecht gebaut. Aber das Bestandgebäude hat durchaus eine baukulturelle Qualität, die Deckenhöhe entspricht den aktuellen Anforderungen an die Arbeitsstättenrichtlinie und die innere Struktur ist als Skelettbau umgesetzt, was eine gute und flexible Anpassung an moderne Büroflächen ermöglicht. Wir müssen das Gebäude also keineswegs abreißen, sondern können es intelligent weiter nutzen. Bei dem Rückbau der nichttragenden Innenwände fanden wir außerdem Ziegelsteine von 1890, die beim damaligen Bau bereits wiederverwendet wurden. In den Zeiten des Mangels der 1950er Jahren hat man verbaut, was vorhanden war. Diese Ziegel konnten wir im Projekt nochmals weiterverwenden und ihnen so ein „drittes Leben“ ermöglichen. Bei allem, was wir erneuern, versuchen wir, diese Erkenntnisse zu nutzen.

Ich höre immer wieder aus der Architekten- und Planerschaft: Wenn die Planung nicht passt, werden durch Falschbestellung viele wertvolle Ressourcen verschwendet oder unbenutzte Bauteile landen direkt im Müll. Ist das so?

Finkbeiner: Das stimmt. Nehmen wir mal das Thema Fenster, wenn man das einfach nur mal schnell „googelt“ findet man viele neuwertige Fenster aus Fehlproduktionen, die sofort verfügbar wären. Im Holzbau wiederum läuft sehr viel über Vorelementierung und eine umfassende Werk- und Montageplanung inklusive deren Prüfung. Das ist sehr präzises Bauen. Wenn hier etwas nicht passt – dann hat man grundsätzlich etwas falsch gemacht! Mir ist nicht bekannt, dass es im Holzbau im großen Maßstab zu Fehlproduktionen kommt.

Ich möchte eine Frage an Sie beide richten: Was sind die Stellschrauben für die Zukunft?

Pottgiesser: Für neue Produkte gibt es inzwischen Produktdeklarationen, aber es sind noch immer recht wenige. Wir wissen ebenso, dass es gar nicht so einfach ist, lückenlos nachzuvollziehen, was der „Carbon Footprint“ ist. Als wir über ein kleines Life-Cycle-Assessment die verschiedenen CO2-Potenziale berechnen wollten, waren die notwendigen Daten entweder nicht verfügbar, die Hersteller geben sie nicht an oder sie müssen bei gebrauchten Produkten, zum Beispiel einer simplen Euro-Palette, neu erarbeitet werden. Bei der Frage nach den Stellschrauben sehe ich also einen großen Bedarf, die Datenlage zu verbessern – insbesondere für bestehende Produkte oder Abbauprodukte. Ein weiterer Punkt: die Funktionalität der notwendigen politischen Instrumente. Aktuell ist davon auszugehen, dass die Lebenszyklusanalyse oder die Berechnung der CO2-Verbräuche rechtlich verankert werden. Zudem wird daran gearbeitet, deren Berechnung digital in die Planung zu implementieren, beispielsweise in BIM-Modelle oder digitale Zwillinge.

Finkbeiner: Eine wichtige Stellschraube sind sicherlich die digitalen Planungstools. Aber BIM ist ja kein Selbstzweck. Die Frage ist vielmehr: Was nützen uns am Ende die digitalen Werkzeuge, um unsere Ziele erreichen zu können? Wir bearbeiten derzeit ein Forschungsprojekt mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, bei dem wir versuchen, die Schnittstellen zwischen der BIM-Planung und einer planungsbegleitenden Ökobilanzierung zu optimieren. Ziel ist es, damit niederschwellig, in frühen Planungsphasen, ganzheitliche Entwurfsentscheidungen zu ermöglichen. Die Wahl eines bestimmten Baustoffes wäre dann nicht nur eine monetäre oder gestalterische, sondern auch eine ökologische Entscheidung. Immer wichtiger werden darüber hinaus digitale Baustoffbörsen für Sekundärbaustoffe. Ein weiterer Punkt ist, dass sich die Art und Weise verändern wird, wie wir Gebäude entwerfen. Es gilt nicht mehr „form follows vision“ sondern eher „form follows resource“. Bei Sekundärbaustoffen wissen wir oft zu Beginn gar nicht, was uns zur Verfügung steht, denn wir greifen ja nicht auf klassische Baustoffe zu, die sofort auf dem Markt verfügbar sind. Es geht uns immer wieder so, dass wir uns für einen Baustoff entscheiden – um anschließend festzustellen, dass er doch nicht zum geplanten Zeitpunkt in der notwendigen Menge verfügbar ist. Oder nicht eingelagert werden kann. Oder keine Gewährleistung bekommt. Oder der Tragwerksplaner damit nichts anfangen will. An dieser Stelle kommen wir dann in eine weitere Diskussion: Wie holt man die eingebundenen Fachplanenden ab? Wie organisieren wir die Vergabeprozesse und wie binden wir die Handwerksunternehmen ein?

Was würden Sie uns als „Hausaufgabe“ mitgeben, wenn wir demnächst durch Städte und Dörfer, über Plätze und Straßen laufen?

Pottgiesser: Ressourcenschutz, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft kommen nicht von allein zu uns. Man darf ebenso nicht darauf warten, dass Politik, Gesellschaft, Architekten oder Nutzer – also die anderen – etwas unternehmen. Vielmehr muss jeder selbst etwas tun. Wenn ich durch Berlin laufe, fällt mir auf, wie viele Anwohner sich inzwischen um das Straßengrün kümmern. Sozusagen „Urban Gardening“ auf dem Gehweg. Natürlich kann man sagen: Und was bringt das eigentlich? Doch es ist die Übernahme von Verantwortung, die sich hier zeigt: „Ich kümmere mich um den öffentlichen Straßenraum, der allen gehört.“

Finkbeiner: Wir sind im Schwarzwald an baukulturellen Transformationsprozessen beteiligt und haben versucht in Gesprächen zu erklären, was für Potenziale wir vorfinden. Im ländlichen Raum gibt es einen „Donut-Effekt“: Es wird außen um den Dorfkern herum gebaut. Dort gibt es keine Baugrundstücke mehr und der Einzelhandel spielt sich auf der „platten Wiese“ ab. Gleichzeitig blutet der alte Ortskern aus und Baukultur sowie Identität der Orte gehen verloren. Vor diesem Hintergrund müssen wir den Blick schärfen für das Potenzial der eigenen Baukultur.

Das Interview führte Architekturexperte Tim Westphal. Westphal kann auf eine breite publizistische Palette verweisen und fokussiert im Wissenstransfer unter anderem auf die Digitalisierung des Bauwesens; in Interviews und Moderationen stärkt er die Schnittstelle von Forschung zu Anwendung.

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