"Ohne Paradigmenwechsel wird Klimaschutz nicht funktionieren"
a3BAU: Kürzlich wurden die Unternehmen der Saint-Gobain-Baustoffgruppe in einer Gesellschaft zusammengeführt. Isover, Rigips und Weber Terranova firmieren damit ab sofort als Saint-Gobain Austria. Vermutlich steckt da mehr dahinter als ein einheitliches Briefpapier. Welche Strategie verfolgen Sie damit?
Peter Giffinger: Für uns ist der Kundennutzen der Treiber. Wir haben diesen Prozess schon vor drei Jahren begonnen, beispielsweise mit der Zusammenführung des Marketings. „One face to the customer“, also in allen Bereichen einen Ansprechpartner für alle drei Marken zu haben, war beziehungsweise ist das Ziel. Dahinter steckt die Strategie, uns von einer Produkt- hin zu einer Kundenorientierung zu entwickeln. Der Außendienstmitarbeiter vertreibt daher jetzt nicht mehr nur das Rigips-System oder das Dämmsystem von Isover oder die Produkte von Weber Terranova, sondern jene Produktlösungen, die die Zielgruppe braucht. Da geht es nicht nur um ein gemeinsames Logo, da steckt sehr viel Arbeit dahinter. Diese Zusammenführung war eine lange Reise.
Das heißt, dass damit auch eine völlige Umstrukturierung in der Vertriebsmannschaft verbunden ist?
Genau. Den Universalisten, der im Bereich Dämmstoff alle Gewerke betreut hat, den haben wir nicht mehr. Sondern es gibt Experten für das jeweilige Kundengewerbe – also beispielsweise Trockenbau, Abdichtung/Boden, Fassade, Holzbau, Fertighaus, technische Isolierung oder den Malerfachhandel. Alles, was das jeweilige Gewerbe braucht aus dem Portfolio von Saint-Gobain, bekommt es von dem einen Mitarbeiter serviciert. Das heißt aber nicht, dass wir nicht Spezialisten im Hintergrund haben, was die Anwendungstechnik betrifft. Das ist verschränkt. Wir bieten damit eine Systementwicklung für das jeweilige Gewerk, für die jeweilige Zielgruppe.
Warum wurde dieser Schritt jetzt gesetzt?
Wir tragen damit dem Trend zur Spezialisierung Rechnung, wie wir sie schon in der Handelsszene und auch auf der Baustelle haben. Wir haben diesen Prozess 2019 mit dem Malerfachhandel und dem Fertighaus begonnen und nun erfolgte als letzter Schritt zu Beginn des Jahres die Zusammenführung der Vertriebsteams, wobei die Schulung der Vertriebsmitarbeiter, die neue Einteilung der Vertriebsgebiete, neue Reisepläne etc. rund ein Jahr gedauert hat.
Ist die neue Struktur beim Kunden bereits angekommen?
Wir haben diese Umstellung mit großen Kunden im Vorfeld diskutiert und die neue Struktur wird sehr gut angenommen.
Sprechen wir von globalen Herausforderungen für die Baustoffbranche. Mit der EU-Taxonomie bekommt das Thema Nachhaltigkeit starken Rückenwind. Viele sprechen von einem radikalen Umbruch in der Bau- und Immobilienwirtschaft. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Wie Sie wissen, bin ich auch Präsident von RespACT und beschäftige mich daher seit jeher mit dem Thema Nachhaltigkeit. Ich sehe vor allem die großen Herausforderungen, die wir haben. Ob damit der große Umbruch eintreten wird, den wir brauchen, ist mit einem großen Fragezeichen versehen. Dass solche Instrumente notwendig sind, das sehe ich schon so, aber die Geschwindigkeit, dies alles umzusetzen, wird die Herausforderung sein.
Für große Unternehmen gibt es bereits die Verpflichtung zur nicht-finanziellen Berichterstattung, für kleinere Betriebe soll er im nächsten Schritt kommen … Sie sehen das kritisch?
Die Berichterstattung kann man schon kritisch sehen. Im Harvard Business Review gab es einen kritischen Artikel dazu, ob Nachhaltigkeits-Berichterstattung tatsächlich zu mehr Nachhaltigkeit führt. Ich sehe damit aber einen Paradigmen-Wechsel im Bereich der Nachhaltigkeit. Es gibt viele Unternehmen, die eine Vorreiterrolle einnehmen – wie auch das unsere – und die sich bisher freiwillig zum Klimaschutz verpflichtet haben. Man hat darauf gesetzt, dass der mündige Konsument die Nachfrage schaffen wird. Jetzt stehen wir an einem Punkt, wo man feststellen muss, das wird so nicht funktionieren.
Also muss mehr Druck in der Bau- und Immobilienbranche aufgebaut werden?
Natürlich zählt der Gebäudesektor neben der Mobilität zu den größten Herausforderungen. Aber in der Nachhaltigkeits-Berichterstattung liegt die große Gefahr, dass man hier eine unheimlich große Bürokratie aufbaut, von der jetzt 90, dann ungefähr geschätzt 1.000 Unternehmen betroffen sein werden. Man muss hier wirklich aufpassen, dass der Aufwand besonders für kleine Unternehmen den Nutzen nicht bei Weitem übertrifft. Denn wer überprüft wie valide diese Zahlen in den Berichten tatsächlich sind? Ich glaube schon, dass es Maßnahmen braucht, aber ob dieses Instrumentarium tatsächlich dazu führt, dass mehr für den Klimaschutz getan wird, ist fraglich. Ein Nachhaltigkeitsbericht allein hat noch keine Veränderung erzielt.
Wie müssen wir es dann angehen?
Wenn wir die CO2-Neutralität im Gebäudesektor angehen wollen, ist es klar, dass der Hebel im Bereich der Städte angesetzt werden muss, weil 70 Prozent der Gebäude in Ballungszentren stehen. Wir werden in Europa eine Verdoppelung der Sanierungsrate brauchen, um unsere Ziele auch nur annähernd zu erreichen. Die Frage ist, reichen einzelne Maßnahmen wie die Sanierung aus? Oder müssen wir nicht auch Verhaltensänderungen herbeiführen? Da gibt es aktuell eine Diskussion in Paris. Die Bürgermeisterin hat die „15-Minuten-Stadt“ als Ziel ausgerufen. Dort soll es möglich sein, dass alles was die Menschen brauchen, innerhalb von 15 Minuten zu Fuß zu erledigen ist, um den Verkehr zu reduzieren. Wir brauchen da, glaube ich, eine viel breitere Diskussion. Die Gefahr, die ich sehe ist, dass wir viel Ankündigungspolitik haben, aber unsere Ziele nicht erreichen.
Wie kann man Druck aufbauen, wenn nicht über Regularien?
Der Druck wird sicherlich über Investoren wie institutionelle Fonds kommen, aber auch von der Industrie, von Konzernen wie Saint-Gobain, die sagen: Unser Businessmodell ist eigentlich ESG-konform. Wir werden Rahmenbedingungen einfordern von den Investoren und von anderen Unternehmen, damit wir unsere Ziele erreichen. Saint-Gobain hat sich als eines der ersten Industrie-Unternehmen zu einem globalen CO2-Neutralitätsziel 2050 committed. Das war bereits vor zwei Jahren, womit wir eine Vorreiterrolle eingenommen haben. Was man vielleicht nicht weiß ist, dass der CO2-Impact unserer Produkte und Systeme sich innerhalb von drei Monaten im Einbau schon wieder kompensiert. Da sieht man die enormen Möglichkeiten, die man bei der Gebäudesanierung hat, sei es ein Dämmstoff oder ein Wärmeschutzglas. Unsere Produkte leisten einen wesentlichen Beitrag, ein Gebäude so zu ertüchtigen, dass der Energieverbrauch entweder deutlich gesenkt oder so gesenkt wird, dass keine fossile Energie verbraucht wird. So gesehen, sind wir per se ESG-konform. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wichtig wäre, dass wir hinsichtlich der Kostenbetrachtung weg von linearen Modellen, hin zu zirkularen Systemen kommen. Dazu wird es sehr wohl Regularien und Lenkungsmechanismen brauchen, denn diese Transformation kostet Geld. Es wird kein Unternehmen massive Wettbewerbsnachteile freiwillig in Kauf nehmen. Die Gefahr, die besteht ist, dass die Politik und die Unternehmen Maßnahmen entkoppelt voneinander setzen. Da braucht es viel mehr Dialog, damit Zielsetzungen gemeinsam angegangen werden und die Akzeptanz für die erforderlichen Maßnahmen auf beiden Seiten da ist. Und wenn wir schon bei der Politik sind: Es wäre natürlich gut, wenn die öffentliche Hand bei ihren Gebäuden ihre Vorreiterrolle stärker wahrnehmen würde. Die BIG macht sehr viel im Bildungsbau, aber da gibt es noch viel Luft nach oben bei der Infrastruktur der Kommunen.
Sie haben die Transformation hin zu zirkulären Systemen angesprochen. Wie sieht es in Sachen Deponieverordnung und Recycling bei der Mineralwolle aus?
Gemeinsam mit dem BMK und dem FMI haben wir die Grundlage geschaffen, wie Kreislaufwirtschaft von Mineralwolle funktionieren kann. Ein wichtiger Schritt dabei war die Trennung von den Schlüsselnummern von Glaswolle und Steinwolle. Ab 2026 wird es ein Deponierungsverbot geben.
Wie geht man bei Saint-Gobain mit dem Thema Recycling um?
Wir haben seit letztem Jahr ein System, wo wir große Mengen an Steinwolle von Werken unserer Industriekunden zurückführen ins Herstellerwerk. Bei Gipskarton machen wir das schon seit vielen Jahren. Fast jeder Partner im Industriekundenbereich bringt seine Verschnitte in unser Werk zurück. Das funktioniert über Gitterboxsysteme, in denen wir die Ware anliefern, und in die der Verschnitt hineinkommt. Die werden gemeinsam mit den Leerpaletten bei der Anlieferung von Ware retour genommen.
Die Rückführung von Verschnitt auf den Baustellen rentiert sich nicht …
Hier stehen wir in Konkurrenz zu den Deponiekosten. Aktuell rentiert sich das nicht. Da sind wir wieder beim Thema, dass es Rahmenbedingungen braucht. Ohne entsprechende Verordnung wird es nicht funktionieren.
Sehen Sie den Leichtbau als Gewinner der Forderung nach einer Kreislaufwirtschaft?
Der Leichtbau hat viele Vorteile. Das beginnt damit, dass weniger Massen auf die Baustelle transportiert werden müssen und weniger rückgebaut werden muss. Erste Studien wurden dazu von BauGenial schon vor vielen Jahren erstellt. Der Leichtbau hat auch den Vorteil, dass man in einer schlankeren Konstruktion bessere Wärmedämmung erzielen kann. Wir können auch in der Nachverdichtung mit dem Leichtbau sehr gut arbeiten – immerhin ist das Thema Flächenverbrauch auch ein wichtiger Faktor in der Diskussion, wie wir unsere Städte lebenswert machen.
Wie beurteilen Sie das Thema Rückbau?
Derzeit kommt der Bagger und alles kommt auf die Deponie und nur ein kleiner Teil der Rohstoffe – dort wo es ökonomisch sinnvoll ist – wird aus dem Gebäude herausgeholt. Meine Vision ist, dass wir eines Tages Gipskartonplatten zu 100 Prozent im Kreislauf führen und das genauso mit der Mineralwolle machen werden. In Zukunft wird sich ein eigenes Gewerbe für den Rückbau herausbilden, das sehen wir schon in Belgien. Im Zusammenhang mit dem Green Deal wird es neue Arbeitsplätze und neue Unternehmen geben, die sich beispielsweise mit diesem Thema beschäftigen. Das sind die großen Herausforderungen der Transformation. Momentan ist es billiger neues Land zu verbauen, als etwas rückzubauen. Da wird es eine Veränderung brauchen, denn der Bedarf an weiterem Wohnraum wird da sein. Aber wir werden Wohnraum brauchen, der in der Herstellung CO2-neutral ist und der keine fossile Energie verbraucht.
Wie wichtig ist der Austausch auf internationaler Ebene im Saint-Gobain-Konzern über Innovationen im Bereich Klimaneutralität?
Sehr wichtig. Wir bauen jetzt gerade das erste CO2-neutrale Gipskartonwerk in Norwegen und schauen, wie das funktionieren kann. Bei Innovationen in dieser Größenordnung braucht es eine Konzernstruktur, weil es da um hohe Kosten und Risiken geht. Wenn so ein Pilot gut funktioniert, dann wird er in anderen Ländern ausgerollt.
Zum Abschluss noch ein ganz aktuelles Thema: Störung der Lieferketten. Wie dramatisch ist die Situation aus Ihrer Sicht?
Es hat internationale Entwicklungen gegeben, die zu Preissteigerungen geführt haben. Eine davon betrifft Holz, ausgehend von Kanada und den USA, der internationale Holzpreis ist aber auch wieder am Weg zur Normalität, die zweite Stahl aufgrund von der Nachfrage aus China. Durch Covid wurde die Lieferkette nach Asien unterbrochen. Und viertens hat es Werksunfälle gegeben im Bereich von Chemikalien, Additiven, die eine Blockade der Lieferkette ausgelöst haben. Aus meiner Sicht hat das dazu geführt, dass Unternehmen sich Material bis zur Fertigstellung der gesamten Baustelle sichern und einlagern. Das ist eine Situation, die wir vor einem Jahr nicht gehabt haben. Wenn ausführende Unternehmen sprunghaft beginnen, Warenlager aufzubauen, stellt das die produzierenden Unternehmen vor riesige Herausforderungen.
Das heißt, Sie gehen auch davon aus, dass die erhöhte Nachfrage nicht durch mehr Bauleistung ausgelöst wurde …
Ich schätze den Hochbau nicht anders ein als es Euroconstruct tut. Und daher glaube ich nicht, dass der Hochbau in Mitteleuropa explodiert ist. Aber ich rechne mit einer guten Nachfrage und wir werden ein paar Prozent Wachstum haben – was übrigens viel zu wenig ist, weil die Sanierung noch immer nicht angesprungen ist. Es gibt Preistreiber wie den Kohleausstieg oder die mit CO2-Bepreisung zu tun haben wie den Zertifikatehandel – Effekte, die auf uns zukommen und unsere Branche treffen. Das Preisniveau wird daher noch nicht das Ende gefunden haben bei einzelnen Produkten, aber die Nachfrage wird mittelfristig nicht das Problem sein. Alle versuchen jetzt, ihre Auftragsrückstände abzuarbeiten und ich denke im 2. Halbjahr 2021, spätestens im 1. Halbjahr 2022 wird sich die Situation normalisieren. Der Show-Stopper wird aber in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht die Versorgung der Bauindustrie sein, sondern der Fachkräftemangel. Damit wird eine weitere Transformation stattfinden. Wir werden viel stärker in die Vorfertigung gehen. Nicht alle Unternehmen finden ausreichend Menschen, die bereit sind, auf der Baustelle zu arbeiten. Es ist viel lukrativer, in einem Industrieumfeld in einer temperierten Halle zu arbeiten. Und selbst dort ist es schwierig, Facharbeiter in ausreichender Zahl zu finden. Ich rechne daher mit einer graduellen Verschiebung in die Vorfertigung.
Peter Giffinger
ist seit 1987 bei Rigips Austria tätig, der weitere Weg innerhalb der Unternehmensgruppe führte ihn ab 1998 zunächst in die damalige Zentrale nach London, danach in die Region Zentraleuropa. Er war bis zu seiner Ernennung zum Managing Director Saint-Gobain Rigips Austria und East Adriatic Region im August 2008 für die Saint-Gobain-Zentrale in Paris tätig.
2016 übernahm Giffinger zusätzlich die Geschäftsführung von Saint-Gobain Isover Austria, Saint-Gobain Weber Terranova folgte 2017. Seit 2019 ist er CEO für Saint-Gobain in Österreich und Präsident der Unternehmensplattform respACT – austrian business council für sustainable development.