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Schach Matt für die Standardisierung?

Von Schrauben deren Ganghöhe exakt zur Mutter passt bis zur reibungslosen Verbindung über USB-Kabel. Jahrzehntelang hat Standardisierung Zusammenarbeit ermöglicht, Prozesse verbessert und damit enorm zum Wohlstandsgewinn beigetragen. Dennoch kommt sie zunehmend unter Druck. Ist die Standardisierung noch reformierbar?

Ich bin befangen. So begeistert und befangen wie man sein muss, um jahrzehntelang unentgeltlich und ehrenamtlich tausende Stunden in die Erarbeitung von nationalen und internationalen Normen und Standards zu stecken. Doch bei aller Begeisterung können die Wucherungen und Probleme des internationalen Standardisierungssystems nicht mehr ignoriert werden. Aber der Reihe nach.

Standards beschreiben den Stand der Technik

Dadurch unterscheidet sich die Tätigkeit der Standardisierung von Forschung, Entwicklung und Erfindergeist. Standardisierung dokumentiert, was zum aktuellen Zeitpunkt gelebte Praxis ist, und macht diese zuverlässig nachvollziehbar. Nutzt man Erzeugnisse, welche bestimmte Standards erfüllen, kann man sich auf bestimmte Eigenschaften – die Einhaltung der Norm – verlassen und gegebenenfalls auch darauf berufen.

Standards sind freiwillig. Na ja, fast.

Standardisierungsorganisationen, sowohl die nationalen als auch die europäischen und die meisten internationalen sind privatrechtlich organisiert1. Damit ist die Einhaltung von Standards zuerst einmal freiwillig. Zum Teil erhalten Standardisierungsorganisationen wie Austrian Standards International (ASI) über Rechtsakte wie das österreichische Normengesetz einen besonderen Status, dennoch besteht die Kernaufgabe der Standardisierungsinstitute in der kooperativen Festlegung von Normen auf Basis von Konsens, und nicht in der Einführung von Gesetzen.

Unter bestimmten Umständen kommt den Standards jedoch beinahe, oder tatsächlich, Gesetzeskraft zu. Bei europäischen harmonisierten Normen Kraft Beschluss des Europäischen Gerichtshofes („James Elliot Case“), bei vielen anderen aufgrund der geübten Praxis der Gerichte, Standards als Stand der Technik anzuerkennen und danach zu urteilen.

Standards entwickeln sich weiter

Ein Grundsatz der Standardisierung ist, dass Normen nach einer bestimmten Zeit – üblicherweise 5 Jahren – einer Überprüfung unterzogen und bei Bedarf neu herausgegeben werden. Dies kann aus der Geschäftsordnung heraus, oder aber auch auf Antrag von Interessensgruppen passieren.

Auch die Reichweite von Standards entwickelt sich weiter. Bei entsprechender überregionaler Relevanz kommt es oft sehr schnell zur Bildung von Standardisierungsgremien auf europäischer (CEN, CENELEC, ETSI) oder weltweiter (ISO, IEC) Ebene.

Standardisierung ist konsensual

Die Erarbeitung von Inhalten erfolgt nicht nur demokratisch, sondern konsensual. Der Inhalt ist fertig, wenn niemand mehr begründete Einwände hat. Je größer die Anzahl der Mitglieder, desto schwieriger die Entscheidungsfindung, desto umfangreicher die Kompromisse, desto komplizierter können auch die Formulierungen sein.

„Standardisierung ist Verkaufsförderung“

Diesen denkwürdigen Satz gab mir der damalige Präsident der österreichischen Arbeitsgemeinschaft Putz, Michael Hladik, 1997 in meine allererste Normensitzung mit. Und richtig, Standardisierungstätigkeit erfolgt selten ohne den Hintergedanken der Förderung der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit. Internationale Standards bergen potenziell auch die Möglichkeit, weltweite Handelsbeziehungen zu beeinflussen, gegebenenfalls auch in protektionistischer Weise.

Dies wird von den Geschäftsordnungen der Standardisierungsorganisationen auch ausdrücklich adressiert. So verpflichtet das CEN die Teilnehmenden schriftlich dazu, ihre Interessen dem Gemeinwohl der europäischen Union hintan zu stellen.

Dennoch ergibt sich daraus die Tendenz, dass Standards immer umfangreicher und zahlreicher werden. Gremien mit mehreren hundert Expertinnen und Experten sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Zum Glück inzwischen überwiegend umweltschonend als Videokonferenzen abgewickelt, nehmen die Zahl der Sitzungen und der zugehörige Schriftverkehr exponentiell zu.

Zu viel, zu aufwendig, zu teuer, zu langsam, zu sehr Lobbying- und Consultant-verseucht

Die Standardisierung ist aufgrund ihres Fleißes zur Zielscheibe geworden. Die Arbeitsgruppe 7 des europäischen CEN TC 442 etwa hat ein Excelfile veröffentlicht welches säuberlich alle 43 europäischen Standards auflistet die zu erfüllen sind wenn man Building Information Modelling betreiben will. Einige davon sind so komplex, dass die zuständigen Normengremien eigene Beschreibungen für deren Handhabung herausgeben.

Die Frage, wer in aller Welt dies in der Praxis noch lesen, verstehen, beherrschen und vollinhaltlich anwenden soll erscheint berechtigt. Und ganz billig ist die Normenflut auch nicht, wenngleich Österreichs 15.000 Baumeisterbetriebe aufgrund einer Vereinbarung zwischen Bundesinnung und ASI kostenfrei darauf zugreifen können. Was sich das ASI dem Vernehmen nach jährlich siebenstellig vergüten lässt und am Ende über die Grundumlagen doch wieder als Kostenposition bei den Unternehmen landet.

Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass der Organisations- und Abwicklungsaufwand der hunderten laufend aktiven Normungsgremien beim Standardisierungsinstitut trotz der ehrenamtlichen Mitarbeit der Expertinnen immensen Aufwand verursacht und diese Summen legitimiert.

Gleichzeitig steigt aufgrund der strategischen Bedeutung vieler Standards die Flut an Interessensvertretern und Lobbyisten in der Normenentwicklung spürbar an - ressourcenschwache sachorientierte Idealisten gehen in diesem Umfeld vielfach unter.

Aufwendige organisatorische Prozesse

Besonders bei harmonisierten europäischen Normen wird der hohe Zeitanteil für die Organisation und Abwicklung der Konsensfindung im Standardisierungsprozess sichtbar.

Bei einer realistischen Mindestdauer von zwei Jahren bleiben für die eigentliche inhaltliche Arbeit kaum acht Monate über, der Rest der Laufzeit wird für notwendige, aber zeitaufwendige Feedbackschleifen und Abstimmungen mit den nationalen Normungsgremien und der Konsultation der europäischen Kommission benötigt.

Der „James Elliot Case“ und die neue europäische Normenstrategie

Öffentlich unbemerkt ging 2016 ein Erdbeben durch die europäische Normenlandschaft, als der „James Elliot Case“ bis zum europäischen Gerichtshof eskaliert wurde und dieser festgestellt2 hat, dass harmonisierte europäische Normen zum europäischen Rechtsrahmen gehören.

Damit war die europäische Legislative plötzlich mit einer weiteren quasi konkurrierenden Rechtssetzung konfrontiert, nachdem schon die Entscheidungen der Gerichtshöfe die normale parlamentarische Gesetzesarbeit national wie europäisch teilweise überstimmen.

Die oben genannte privatrechtliche Eigenschaft der Normenorganisationen macht die Situation für die Europäische Kommission auch nicht einfacher.

Dieser Umstand wird zum Beispiel beim offiziellen Mandat3 der europäischen Kommission zur Umsetzung des CPR ACQUIS Prozesses für die neue Bauproduktenverordnung sehr deutlich adressiert. Siehe Fußnote, ein ausgesprochen lesenswertes Dokument!

Die Antwort darauf besteht in der Kombination einer verschärften Kontrolle von harmonisierten Normen durch die „HAS-Consultants4“ der EC sowie der „neuen europäischen Normenstrategie“ und der verstärkten Hinwendung zu delegierten Rechtsakten für die detaillierte Umsetzung europäischer Richtlinien und Verordnungen.

Letzteres stellt sich in der Praxis so dar: Die Kommission wird mit einem „Standardisation Request“ zu einem bestimmten Thema bei den europäischen Normeninstitutionen (CEN, CENELEC, ETSI) vorstellig. Sofern der Standardisierungsauftrag angenommen und sowohl zeitgerecht als auch den legislativen Anforderungen entsprechend umgesetzt werden kann, wird dieser neue harmonisierte Standard im offiziellen Journal der europäischen Union veröffentlicht und damit rechtswirksam.

Falls nicht, behält sich die Kommission vor das Thema über delegierte Rechtsakte selbst zu lösen. Im Zuge der aktuellen Verordnungen wird dies auch klar mitgeteilt, etwa der neuen Bauproduktenverordnung5 vom Dezember 2024, oder auch der Ökodesignverordnung.

Alternativen zur traditionellen Standardisierung

Die Möglichkeit delegierter Rechtsakte ist die wohl relevanteste Alternative zur herkömmlichen Standardisierung. Gegenüber der vorwiegend von der Wirtschaft getragenen Normungsarbeit stellen Rechtsakte eine Verlagerung auf die politische Ebene dar.

Das Instrument des delegierten Rechtsaktes im Rechtssystem der EU ist ein durchaus effizientes. Nach einer umfangreichen aber straff durchgezogenen öffentlichen Konsultation unter Einbeziehung der relevanten Stakeholdergruppen erstellt ein Expertengremium der zuständigen Generaldirektion der europäischen Kommission einen Vorschlag welcher nur noch zum Einspruch an die anderen beiden Kammern (Rat, Parlament) vorzulegen ist und so relativ rasch Rechtskraft erlangt.

Die Wirtschaft ist in diesem Prozess nicht völlig außen vor, ihr Einfluss ist aber gegenüber der herkömmlichen Standardisierung erheblich geringer.

Industriestandards

Eine andere, bewährt effiziente Alternative stellen sektorspezifische „Industriestandards“ dar welche kooperativ von den betroffenen Unternehmen und Verbänden erarbeitet werden. Bekannt sind zum Beispiel die internationalen Artikelnummern von GS1, ETIM als Klassifikationssystem für die Elektrotechnik, die Baustoffklassifikation „freeClass“ oder auch die Arbeit der IDTA oder von BuildingSmart. Die Grenze zum Lobbyismus ist fließend, die Ergebnisse fließen teilweise auch in den Normungsgremien wieder ein.

Reformierbarkeit

Vorgenannte Alternativen zeigen, dass Standardisierung effizienter stattfinden könnte. Der Druck auf ASI, DIN und CEN wird dadurch nicht geringer.

Und tatsächlich werden auch politische Anstrengungen unternommen, das als grundsätzlich weiterhin wichtig wahrgenommene Normensystem zu reformieren und in die Zukunft zu führen. Die „europäische Normenstrategie6“ erkennt hier auch die Notwendigkeit an, europäische Normen auch im weltweiten Kontext relevant zu halten.

Hierzu werden unterstützende Maßnahmen wie die Einrichtung eines EU-Exzellenzzentrums für Normen oder ein spezielles „Fast Track Verfahren7“ diskutiert, aber auch Vorschläge den Delegierten eine „Standardisierungs-Grundausbildung“ zukommen zu lassen oder die Knochenarbeit der Delegierten zumindest ansatzweise zu entlohnen um die wirtschaftliche Beeinflussbarkeit der Normung durch finanzstarke Organisationen zu reduzieren.

Bislang sind die Ergebnisse auf europäischer Ebene aber überschaubar. Die Verordnung vom 2.2.2022 zur Änderung8 der VO 1025/2012 besteht am Ende nur aus zwei Artikeln und legt nur fest, dass die Kommission Normenaufträge vergeben darf und dass Entscheidungen über Normen und Dokumente ausschließlich von Vertretern der Normenorganisationen getroffen werden können.

Ausblick

Notwendigkeit und Wert der Normung sind unbestritten, die Kritik an aufgeblasenen Abläufen und überbordenden, nicht mehr effizient nutzbaren Standards muss jedoch ernst genommen werden. Inwieweit die neue europäische Normenstrategie in der Lage ist, dies zum Besseren zu wenden wird sich zeigen. Inzwischen liegt es in der Verantwortung der Delegierten, individuelle Interessen im Sinne der Allgemeinheit zurückzustellen und gemeinsam an sinnvollen, lesbaren und umsetzbaren Lösungen zu arbeiten.

[1] eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52022PC0032

2 eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62014CJ0613

3 https://ec.europa.eu/transparency/expert-groups-register/core/api/front/expertGroupAddtitionalInfo/42689/download

4 https://boss.cen.eu/developingdeliverables/pages/en/pages/has_assessment_process/

5 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L_202403110

6 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52022DC0031&qid=1736419986143

7 https://www.cencenelec.eu/media/CEN-CENELEC/AreasOfWork/CEN%20sectors/Construction/Quicklinks/Doc%20and%20Materials/2023/20230623_cen_cenelec_instructions_fast-track-route.pdf

8 eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52022PC0032

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