© Austrian Standards

Wie viel Standardisierung verträgt der Markt?

„Bauen außerhalb der Norm“ ist eine Initiative, die einmal mehr die Diskussion über Österreichs Normenlandschaft entfacht hat. Ist die Vielzahl an Normen wirklich notwendig oder trägt sie eher zur Bürokratie und Innovationsbremse bei? Diesen Fragen stellte sich Karl Grün, Deputy Managing Director von Austrian Standards International und seit ­kurzem Leiter der Stabsstelle Standards Affairs. Im Interview stellt er klar, wohin sich die Standardisierung entwickeln wird und welche Grundwerte für das Normungsinstitut nicht verhandelbar sind.

a3BAU: Herr Grün, Sie sind seit 2023 Deputy Managing Director für Austrian Standards International, seit kurzem auch Leiter der Stabsstelle Standards Affairs. Ich möchte heute mit Ihnen darüber sprechen, wohin sich die Standardisierung entwickeln wird. Grundsätzlich sind wir uns einig, dass es zu viele Normen gibt …?

Karl Grün: Hier kommt von meiner Seite natürlich ein Einspruch. Unsere Verantwortung bezieht sich darauf, dass wir jene sind, die die neutrale, unabhängige Plattform bieten, damit jene, die einen Bedarf an einer Standardisierung haben, diesen einbringen können. Das soll nicht heißen, dass wir jegliche Verantwortung von uns weisen, mitnichten. Wir betonen immer, Standardisierung ist ein offener, transparenter, inklusiver Prozess zwischen den Stakeholdern. Alle Stakeholder sind dazu aufgerufen – von uns auch motiviert –, sich daran zu beteiligen, um im Konsens zu definieren, was ein guter Standard ist. Standards werden auch nur dort initiiert, wo sie Sinn machen, wo sie einen Mehrwert bieten. Sie werden auch über verschiedene Stellungnahme-Verfahren auf ihre Eignung überprüft. Halten sie dabei nicht stand, gibt es keinen Standard. Insofern ist die Wahrnehmung, die Sie geäußert haben, zu diskutieren. Sehr oft zeigt sich, dass in der Diskussion Normen gerade im deutschsprachigen Raum oft als Rechtsnormen, Förderrichtlinien, Bescheide etc., also auch als andere Instrumente verstanden werden als jene Standards, die wie vorhin beschrieben bei uns in transparenten inklusiven Multi-Stakeholder-Prozessen im Konsens ausgearbeitet werden. Standards werden bei uns also nur erarbeitet, wenn es einen begründeten Bedarf und einen Mehrwert gibt.

Normen werden konsensual entschieden, also im Einigkeitsprinzip – daher ist die Entscheidungsfindung so schwierig und langwierig. Warum greift man nicht den Vorschlag auf, dass die Entscheidungsfindung von einigen wenigen Sachverständigen getroffen wird, die im Vorfeld die Eingaben der Stakeholder prüfen?

Standards sind Empfehlungen, wie etwas gemacht werden kann. Eine Empfehlung lebt von Akzeptanz. Diese Akzeptanz kann man eben dadurch fördern, dass diese Empfehlung im offenen, transparenten Prozess erarbeitet wurde, wo alle die Möglichkeit haben, sich daran zu beteiligen, und vor allem, wo auch niemand ausgespart wird und wo auch jeder und jede mit gleicher Stimme spricht. Mit gleicher Stimme meine ich, dass jedes Stimmrecht unabhängig davon ist, wie groß das Unternehmen ist und ob es jetzt ein Sachverständiger, ein Vertreter der Wirtschaft, der Verwaltung, Wissenschaft und Forschung, der Zivilgesellschaft etc. ist. Diese Einstimmigkeit ist sicherlich ein Qualitätsmerkmal insofern, als dass wir hier eine Empfehlung herausgeben, hinter der die Gruppe, die hier facettenreich abgebildet ist durch die Stakeholder, also den Markt, auch steht. Es gibt darüber hinaus das Instrument des Mehrheitsbeschlusses, das heißt, wenn jemand dagegen ist und das gut begründet und das dann abgelehnt wird, kann man einen Antrag ans Präsidium stellen, um vom Einstimmigkeitsprinzip abzurücken. Das ist aber in den letzten Jahren so gut wie nie vorgekommen. Das heißt, um zum Konsens zu kommen, braucht es zunächst den Dissens, das Miteinanderreden, das Überzeugen und es passiert nichts nach dem Motto „ich überstimme dich, weil ich der Stärkere bin“. Damit wird eine Fairness erzeugt, die sich in der Empfehlung wiederfindet.

Jetzt habe ich einen Einspruch: Diese Fairness ist insofern nicht gegeben, weil größere Firmen über die entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, diese Gremien ständig zu besetzen, andere können das gar nicht. Damit haben sie doch automatisch weniger Gewicht …

Diese Meinungen hören wir oft, aber wir können mit Statistiken – Zahlen, Daten, Fakten – aufwarten, wie diese Gremien zusammengesetzt sind. Im Tätigkeitsbericht ist auch die Stakeholder-Verteilung über alle Gremien dargelegt. Da sieht man, dass 44 Prozent der entsendenden Organisationen kleine und mittelständische Unternehmen sind. Von 2.800 Organisationen sind rund 4.800 fachkundige Personen nominiert.

Aber sagen diese 44 Prozent etwas darüber aus, wie oft ein Unternehmen tatsächlich an den Sitzungen teilnimmt?

Es gibt die Möglichkeit der unmittelbaren Mitwirkung, aber auch die mittelbare Teilnahme, auf die ich noch gerne zu sprechen komme. Die unmittelbare Mitwirkung bedeutet, dass ich als Organisation entscheide, ob ich eine fachkundige Person habe, die ich in das Normungsgremium entsende. Standardisierung ist angewandtes Projektmanagement. Wir fragen dann: Womit soll sich der Standard beschäftigen? Was ist die voraussichtliche Projektdauer? Damit ist offengelegt, wie hoch die Investitionen in Personalressourcen in etwa sein werden. Das Unternehmen muss dann entscheiden: ist das Projekt für meine Geschäftstätigkeit relevant? Wenn ja, habe ich die personellen Ressourcen, um mich am Prozess zu beteiligen? Es zeigt sich, dass über die letzten Jahre die Anzahl der Teilnehmenden insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen stetig zunimmt. Es gibt auch die Möglichkeit, dass man etwa über Fachorganisationen, Interessensvertretungen mitwirkt und sozusagen seine Branche für sich in den Standardisierungsgremien reden lässt. Wenn ein Standard entwickelt wird und ein Fachgremium nach bestem Wissen und Gewissen der Meinung ist, mit seiner Arbeit fertig zu sein, wird das Dokument als Entwurf zur öffentlichen Stellungnahme aufgelegt. Als Unternehmen hat man die Möglichkeit, online auf unserem Normen-Entwurfs-Portal den Entwurf zu lesen und auch Kommentare abzugeben, die dann vom Standardisierungsgremium behandelt und beantwortet werden. Sollte die Antwort auf die Stellungnahme eine ablehnende sein, hat man immer noch die Möglichkeit die so genannte Schlichtungsstelle anzurufen, um Einspruch gegen die Ablehnung zu erheben.

Jetzt haben wir aber noch immer nicht die Frage geklärt, wie stark Vertreter von KMUs tatsächlich beim Normierungsprozess vertreten sind oder ob KMUs nur statistisch gesehen 44 Prozent der Stakeholder ausmachen.

Wenn eine fachkundige Person von einem Unternehmen nominiert wird, dann hat diese Person einen ständigen Sitz und das Recht, an den Sitzungen teilzunehmen. Diese Sitzungen sind hybrid, die Reisekosten sind daher überschaubar. Und die Arbeit findet auch zwischen den Sitzungen statt. Wir haben hier Tools in Ausarbeitung, wo man 24/7 an den Dokumenten arbeiten und sich mit anderen in diesem Gremium austauschen kann. Das heißt, die Entscheidung, engagiere ich mich laufend oder mache ich das nur punktuell, ist eine Entscheidung, die die jeweilige Person zu treffen hat. Wir monitoren das. Nimmt die Person an weniger als 50 Prozent der Aktivitäten teil, dann wird die nominierende Stelle angeschrieben, dass offenbar eine mangelhafte Teilnahme beobachtbar ist. Hier fragen wir nach, ob es kein Interesse gibt oder welche Gründe vorliegen. Ich kann aber sagen: Die Disziplin, sich zu engagieren, ist eine sehr, sehr hohe. Die Personen in den Gremien haben den Mehrwert der aktiven, unmittelbaren Teilnahme erkannt, um hier wirtschaftliche Rahmenbedingungen in einem konsensualen Prozess mit anderen Vertretern des Marktes zu gestalten.

Dennoch bleibt der Vorwurf im Raum, dass Entscheidungsfindungen Lobbying-getrieben sind, weil Hersteller dabei mitwirken. Mit drei bis vier herstellerunabhängigen Experten könnte man diesen Einfluss hintanstellen. Denkt man bei Austrian Standards nicht in diese Richtung?

Es ist unsere Aufgabe, bei der Besetzung eines Gremiums auf Ausgeglichenheit zu achten. Es gibt ja auch Stakeholder z.B. aus Wissenschaft und Behörden, die keine Herstellerinteressen in dem Sinn vertreten. Wir betonen immer, dass es nicht um Partikularinteressen, sondern um einen allumfassenden Interessensausgleich zwischen allen Akteur:innen, die sich bei uns in den Fachgremien wiederfinden, geht. Ich sage es überspitzt: Der hohe „Rat“ hätte einen gewissen Beigeschmack und steht auch im Widerspruch zu den Bestimmungen des Normengesetzes bzw. zur DNA der Standardisierung. Das erinnert mich an ein Bild früherer Tage in Ländern, wo ein Vorhang existierte, der sich in einem hohen Eisengehalt geäußert hat.

Ein anderer Vorwurf lautet: Normen bilden meist nicht den Stand der Technik ab, hinken dem Stand der Technik hinterher, weil Normen ja nicht laufend aktualisiert werden (können). In Rechtsstreitigkeiten wird dann aber sehr oft die Norm herangezogen. Kritiker fürchten, dass in der Standardisierung, wie sie jetzt passiert, Innovation verhindert wird.

In der Standardisierung sind auch Forschungseinrichtungen involviert. Grundsätzlich kodifizieren Standards nicht nur, was heute Stand der Technik ist, sondern sie werden auch vorausschauend entworfen. Standards sind auch nicht in Stein gemeißelt, sondern werden in regelmäßigen Zeitabständen auf Aktualität überprüft. Nicht nur hinsichtlich neuer technischer Fortschritte, sondern auch hinsichtlich Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des Standards. Ist diese nicht gegeben, wird der Standard ersatzlos zurückgezogen. Wenn es neue technische Fortschritte gibt bzw. wenn es neue Erwartungen seitens der Anwendenden gibt, dann wird man das in den Gremien berücksichtigen und zum Schluss kommen, dass der Standard zu überarbeiten ist. Da gibt es dann entsprechende Prozesse. Innovationshemmend, wie Sie es angesprochen haben, wären so genannte proprietäre Standards, die von einzelnen Großunternehmen entwickelt werden, wofür wir mit unserem Standardisierungssystem nicht stehen. Bei uns gilt das Prinzip des offenen Standards, das sich dadurch auszeichnet, dass Standards möglichst technologieneutral sind und einen Freiraum für Innovationen bieten. Das heißt, auf Basis des Standards passieren innovative Lösungen, die das „Was zu tun ist und wie es zu tun ist“ beantworten. Das Wechselspiel zwischen Standards und Innovationen zeigen zudem sehr beeindruckend seit 2015 die zahlreichen Preisträger der Living Standards Awards.

Normen werden hinsichtlich ihrer Aktualität spätestens alle fünf Jahre überprüft. Was sagt die Statistik zu den durchschnittlichen Intervallen?

Das hängt von der jeweiligen Branche ab. Es gibt traditionelle Branchen, wo der technische Fortschritt sehr gering ist, sodass nach fünf Jahren nur eine Bestätigung erfolgt. Und dann gibt es hochinnovative Bereiche wie die IT, wo die Überarbeitungszyklen viel kürzer sind. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Standards technologieneutral geschrieben werden und einen maximalen Freiraum für technischen Fortschritt bieten und nicht hemmend sind. Sollte ein Standard hemmend sein, dann ist das Standardisierungsgremium von uns auch angehalten, den Standard zu überarbeiten, um den besten fairen Wettbewerb der Ideen auch zu fördern.

Mir wurde ein Beispiel zugetragen, wonach die ÖNORM H 6031 vorsieht, eingebaute Brandschutzklappen jährlich zu überprüfen. Ein am österreichischen Markt vertretenes innovatives Produkt würde eine Überprüfung nur mehr alle fünf Jahre benötigen. Laut ÖNORM muss dennoch jährlich eine Wartungskontrolle erfolgen, was den Wettbewerbsvorteil des neuen Produkts – geringere Kosten durch höhere Wartungsintervalle – zunichtemacht. Eine Änderung der Norm hinsichtlich einer Aufweichung der vorgeschriebenen jährlichen Kontrolle wird beharrlich seitens etablierter Hersteller blockiert. Zeigt das nicht, dass Standardisierung hier benützt wird, um einen Markt vor innovativeren Produkten abzuschotten …

Zufälligerweise kenne ich den Fall, der derzeit noch im Prozess der Konsensfindung ist. Daher möchte ich darauf nicht näher eingehen, wenn Sie gestatten. Da gibt es Gespräche mit dem Normungsgremium, wie man das konstruktiv löst. Prinzipiell setzt man sich im Normungsinstitut mit neuen Ideen sehr konstruktiv auseinander. Ich bringe Ihnen ein Beispiel, wo das Normungssystem rasch auf innovative Lösungen reagiert hat. Bei Schneeketten kam ein Produkt auf den Markt, das zwar die Wirkung, aber nicht das Aussehen von Schneeketten hatte. Daraufhin wurde eine zweite Norm entwickelt, die auf diese „Nicht-Schneeketten“ mit Schneeketten-Funktion eingegangen ist.

Aber genau diese Vorgangsweise – anstatt eine Norm offener zu formulieren, damit mehrere Lösungen möglich sind, dann zwei Normen parallel laufen zu lassen – fördert doch nur den Normendschungel. In vielen Bereichen wie bei dem vorher beschriebenen Fall der Brandschutzklappen könnte man doch auch die vorgeschriebenen Kontrollen seitens des Herstellers heranziehen. Muss es dafür eine Norm geben? Professor Christoph Achammer spricht davon, dass wir mit weniger als 300 Standards, die Vorschrifts-Charakter haben, auskommen würden.

Dann darf ich vorschlagen, dass man uns genau diese Normen, die man glaubt, nicht zu brauchen, mitteilt, sodass wir das in einem Dialog miteinander durchgehen können. Wir haben vor einigen Jahren das Dialogforum Bau Österreich ins Leben gerufen, um gemeinsam zu identifizieren, wo es „Bröseln“ in Form von Normen gibt. Und da komme ich wieder darauf zurück, was damals alles in dieser Diskussion unter Normen verstanden wurde – Gesetze, Verordnungen, OIB-Richtlinien bis hin zu Förderrichtlinien und eben auch Normen. Und man hat dann gesehen, dass es eine sehr überschaubare Anzahl an Standards in unserem Sinne betroffen hat. Diese Hinweise wurden auch in den Gremien behandelt, das dazu führte, dass Standards zusammengelegt, andere überarbeitet wurden oder, wenn sie nicht mehr notwendig waren, ersatzlos zurückgezogen wurden. Wenn es also einen Bedarf im Sinne von „Das brauchen wir nicht“ gibt, dann bitte uns dies aktiv mitteilen.

Gibt es das Dialogforum Bau Österreich in irgendeiner Form noch?

Es gab mehrere Phasen des Dialogforums Bau Österreich, das letztendlich abgeschlossen wurde, aber die Arbeit wurde in die Formate der Jahrestagungen und dem Baustammtisch übergeführt, wo man sich sehr aktiv und praktisch mit aktuellen Themen auseinandersetzt. Dass Normen kontinuierlich überprüft und auch zurückgezogen werden, ist ein systemischer Prozess, der laufend passiert.

Das wäre jetzt auch Ihre Antwort, wenn ich Sie nach Ihrem Ansatz frage, wie wir die Normenflut eindämmen können?

Der „Normendschungel“ ist insofern einzudämmen, wenn man sieht, dass es diesen oder jenen Standard nicht braucht, uns dies auch aktiv direkt mitzuteilen und nicht über Pressemitteilungen. Wir stehen für einen aktiven Dialog – für ein Reden miteinander, nicht übereinander.

Kommen wir auf ein Problem zu sprechen, das immer wieder für Verärgerung sorgt: Es heißt, Normen basieren auf Freiwilligkeit, außer sie werden in den Bauverträgen vereinbart. In der Rechtsprechung passiert es dann aber doch immer wieder, dass bei Streitigkeiten die Normen rechtsverbindlich herangezogen werden. Einmal sind also die Bauordnungen, einmal die Normen einzuhalten. Unternehmen können sich nicht darauf verlassen, dass die Einhaltung einer Norm automatisch die Einhaltung des „Stands der Technik“ bedeutet. – warum kann man das nicht klarstellen?

Das ist eine sehr gute Frage. Insofern spannend, als Standards Instrumente, Werkzeuge sind. Das A und O bei einem Werkzeug ist aber, wie kompetent jene sind, die das Werkzeug bedienen. Damit sind wir beim Thema Bildung, Ausbildung im Bereich der Standardisierung. Wenn es jemanden gibt, der sagt, was ist Stand der Technik zu dem jeweiligen Zeitpunkt gewesen, und sich dabei auf die Lettern eines Standards beruft, ohne seinen Sachverstand zu bedienen, dann entfaltet ein Standard eine Wirkung, die er so gar nicht hätte, nicht hätte haben sollen. Der Sachverständigen-Verband ist bei uns vertreten – auch beim Baustammtisch und der Jahrestagung Bau – und weiß um die Notwendigkeit für seine Mitglieder, sich damit zu beschäftigen, wie man Standards in einem Gerichtsverfahren als allgemein beeideter zertifizierter Sachverständiger anwendet. Und ich möchte hier auch betonen – und verweise auf das (noch) aktuelle Regierungsprogramm, wo die Ausbildung der Richterschaft im Bereich der Standardisierung Eingang fand. Ein Sachverständiger kann eine Frage nur in dem Sinne beantworten, wie sie gestellt worden ist. Wenn aus Unkenntnis die falschen Fragen gestellt werden, kommt oft nicht das zu erwartende Ergebnis heraus.

Das heißt, es bedarf auch bei den Experten noch mehr Aufklärung?

Definitiv. Deswegen ist es uns auch ganz wichtig, dass wir Bewusstsein schaffen, wie man Standards anwendet, nämlich klug, sodass sie nicht einengend sind. Ein Standard ist kein Korsett, sondern ein Fundament, auf dem man aufbauen kann.

Würden Sie daher empfehlen, von vornherein konkrete ÖNORMEN im Bauvertrag zu vereinbaren als den Stand der Technik, der viel Spielraum in der Interpretation zulässt?

Da bin ich ganz bei Ihnen, aber das ist etwas, was die Vertragsparteien entscheiden müssen, es gilt die Vertragsfreiheit. Wenn aber Standards, gewisse technische Spezifikationen, vereinbart sind, so wird zumindest zu Beginn eine gemeinsame Sprache festgelegt. Aber auch festgehalten, welche Klassen der Auftraggeber fordert und was der Wille der Vertragsparteien ist. Und was ich auch noch betonen möchte: Wenn es zu einer Neuausgabe der Norm kommt, dann bitte nicht einseitig ändern, sondern auch hier den Konsens mit dem Auftraggeber suchen. Es ist sicherlich im Interesse beider Parteien, für mehr Klarheit zu sorgen. Nicht von ungefähr wird bei Bezugnahme auf den „Stand der Technik“ darauf hingewiesen, dass dieser näher zu spezifizieren ist.  

Beim Thema BIM wiederum ist es so, dass es einige parallel laufende Versuche gibt, Standards zu entwickeln, wie etwa von der Österreichischen Bauvereinigung (ÖBV), BuildingSmart, firmenindividuelle proprietäre Standards etc. Wie problematisch sehen Sie diese Entwicklung?

Die Frage ist sehr interessant, zumal Sie ja vorhin gesagt haben, dass es oft ein Ressourcen-Problem ist, in der Standardisierung bei uns mitzumachen. Auf der anderen Seite wird aber an anderen Regelwerken in diesen Organisationen gearbeitet. Ja, es gibt den offenen Wettbewerb der Ideen oder Ansätze, aber man sollte sich schon überlegen, wo man die Ressourcen bündelt, um an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten. Bei Building Information Modeling geht es auch um eine gewisse Interoperabilität – nämlich von Systemen unterschiedlicher Anbieter, also Technologie-Neutralität, wo es dann in Folge um Schnittstellenproblematiken geht. Ich habe mit weiteren Standards kein Problem als Normungssystem, sofern diese Interoperabilität sichergestellt ist und nicht daran aus Partikularinteressen gesägt wird.

Wenn wir in Richtung Zukunft der Standardisierung schauen. In einer Aussendung des Normungsinstituts ist die Rede von einer Neuausrichtung aufgrund einer sich in Veränderung befindlichen Standardisierungslandschaft in Europa. Wird die europäische Harmonisierung eine größere Rolle spielen in Zukunft und nationale Normen – die ÖNORMEN – zurückgehen?

Die österreichische Standardisierung wird sicherlich nicht in den Hintergrund treten, sondern wir sind eine sehr anerkannte Stimme im Orchester der europäischen und auch internationalen Standardisierung. Wir stehen insofern vor Herausforderungen, als wir hier gerade auf internationaler Ebene verschiedene Regionen in der Welt haben, wo eine Standardisierung als strategisches Instrument nicht nur erkannt, sondern auch genutzt wird, um eigene Interessen voranzubringen. Nehmen wir als Beispiel China mit der chinesischen Normungsstrategie, über die die eigene Regierung – von wirklich der obersten Ebene her – sagt, wir wollen die Nummer eins sein bei der internationalen Standardisierung, damit wir unsere chinesischen Standards weltweit auf den Markt bringen können.

Das ist klassische Marktabschottung …

So ist es. Auf der anderen Seite der Welt wird es auch sehr spannend, wie sich dort die Positionierung in der internationalen Standardisierung entwickeln wird. Gleichzeitig haben wir neue Bereiche, wo wir vorausschauend überlegen müssen, wie wir diese servicieren. Es wird alles smart sein, wir haben das große Thema der Nachhaltigkeit, wir haben in Europa auch das Phänomen des Fachkräftemangels. Was bedeutet das alles für die Standardisierung? Hier müssen wir aktiv agieren, bis hin zur Art, wie Standards entwickelt werden. Das Thema wurde bereits bei uns in Angriff genommen. Wir haben es vorhin schon kurz angesprochen, dass die Arbeit nicht nur von Sitzung zu Sitzung, sondern auch zwischen den Sitzungen online stattfindet.

Sind damit diese in der Aussendung auch erwähnten neuen „Tools“ gemeint?

Einerseits dieses 24/7 asynchrones Arbeiten, aber auch – und da komme ich wieder zu einer von Ihren Fragen zurück – dass wir unser Ohr näher an den Anwendern haben müssen. Das bedeutet nach wie vor, Standards nicht der Standards wegen zu entwickeln, sondern damit sie ihre positive Wirkung am Markt entfalten. Und wenn es von den Anwendenden ein Feedback gibt, kommen wir dem natürlich nach.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wird das Normungsinstitut in Zukunft auch eine stärkere Rolle bei der internationalen Standardisierung einnehmen. Generell wird die internationale Harmonisierung immer wichtiger, um die Interessen Europas gegenüber China oder den USA zu schützen?

Das ist seit Jahren eine Stoßrichtung in der europäischen Normungsstrategie, wo die europäische Standardisierung ein strategisches Instrument ist und das Top-Management in der Kommission das auch ganz klar gefordert hat, weil sich Europa mit den europäischen Grundwerten besser positionieren muss –durch die Mitwirkung europäischer Stakeholder und damit auch Österreich. Damit ist es auch ein Thema, wie man die Teilnahme österreichischer Expert:innen international fördern soll. Hier sind wir mit diversen Vertretern auch aus der Politik im Gespräch. Das geht genau in die Richtung Stärkung Österreichs als ein verlässlicher Partner in Europa, um die heimische Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft zu stärken, eingebettet einerseits im europäischen Binnenmarkt, aber auch in globalen Wertschöpfungsketten.

Man kann also davon ausgehen, dass in Zukunft tendenziell die Europäischen Normen mehr Bedeutung haben werden als die österreichischen?

90 Prozent der österreichischen Normen sind Europäische Normen, die wir übernehmen. Der Anteil rein österreichischer Normen, die in Österreich für Österreich entwickelt werden, ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark im Abnehmen, während die Europäischen und internationalen Normen – das ist für österreichische Exporteure ganz wesentlich – stark zunehmen. Es ist daher ein Gebot der Stunde und unser Tagesgeschäft, an gemeinsamen Europäischen Standards mitzuwirken.

Das sind gute Nachrichten für all jene, die sagen, dass österreichische Normen schärfer sind als Europäische Standards …

Es gibt kein Golden Plating in der Normung in Österreich. Europäische Normen sind unverändert als nationale Norm zu übernehmen und dem entgegenstehende nationale Normen sind zugunsten der europäischen zurückzuziehen. Wir prüfen ganz genau, ob es hier noch Restbestände gibt, die entsprechend zurückgezogen werden. Es gibt neben unserer internen Qualitätsprüfung ja auch einen Mitbewerb außerhalb von Österreich, der genau darauf achtet, dass es keine Zusatzanforderungen gibt. Wenn es hier eine Wahrnehmung gibt, bitte uns das mitzuteilen. Wir sind die ersten, die sorgfältig dafür sorgen, dass es hier kein österreichisches Golden Plating in der Normung gibt. Wir achten darauf, dass es keine Zusatzanforderungen gibt.

Zum Abschluss würde ich noch gerne auf die Initiative „Bauen außerhalb der Norm“ eingehen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Das ist ein Thema, das wir als neutrale, unabhängige Institution grundsätzlich beobachten. Aber zunächst muss dieses Thema auf politischer Ebene diskutiert werden. Wir stehen als Austrian Standards zur Verfügung, wenn auf politischer Ebene entsprechende Ziele formuliert werden. Wenn es einen Bedarf gibt, der an uns herangetragen wird, entsprechende Standards zu er- oder überarbeiten, werden wir das tun. Wenn es um die Sicherheit geht mit Bauen abseits der Norm, dann sind hier primär das OIB respektive die Bundesländer gefordert, weil schlussendlich Bauen gemäß Kompetenzverteilung Landessache ist und dort festgelegt werden muss, wie man sich dem Bauen abseits der Norm nähert. Unsere Türen sind offen und jeder ist eingeladen, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Aber wie gesagt, Bauen abseits der Norm bedarf Entscheidungen auf politischer Ebene.

… weil es oft mit einem Komfortverzicht einhergeht …

So ist es.

Wie steht es um das Thema „Kostenfreier Zugang zu Normen“?

Das entwickelt sich noch weiter. Es gibt hier einen Dialog mit der Europäischen Kommission. Es gibt das EuGH-Urteil, aber auch noch weitere Aspekte, die wir mit der Europäischen Kommission klären müssen.

Sollte diese Entwicklung weitergehen und Normen zunehmend kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, müssen Sie als Normungsinstitut Ihr Geschäftsmodell überdenken, oder?

Wir überdenken die Geschäftsmodelle laufend und entwickeln auch neue, um einen weiteren Mehrwert für die heimische Wirtschaft, die Gesellschaft, den Staat bereitzustellen. Gleichzeitig ist Austrian Standards Teil einer Qualitätsinfrastruktur Österreichs. Und ich möchte auch betonen, dass der Zugang zur europäischen und internationalen Normung über uns sichergestellt wird. Wenn ein entsprechender Impact zu verzeichnen ist, dann bedeutet das natürlich auch, dass es gewisse Auswirkungen auf die Qualitätsinfrastruktur der Normung haben wird – weil wir abhängig sind von diesem Pfeiler. Wir sind hier in Gesprächen mit weiteren Stakeholdern, wie sich das weiterentwickeln kann.

Wenn sich das Normungsinstitut zunehmend in Richtung internationale Normung fokussiert, müsste die öffentliche Hand also mitfinanzieren, verstehe ich das richtig?

Das habe ich in dieser Form nicht gesagt. Wer der Financier ist, wer für die Finanzierung sorgt, das wird zu klären sein. Worauf wir natürlich achten – und das wird auch so von uns eingefordert – ist, dass unsere Werte dadurch nicht gefährdet werden, nämlich die Neutralität und Unabhängigkeit.

Dipl.-Ing. Dr. Karl Grün

Karl Grün ist seit November 2023 stellvertretender Geschäftsführer (Deputy Managing Director) von Austrian Standards International. Zudem leitet er die neu gegründete Stabsstelle Standards Affairs. Dr. Grün ist über 30 Jahre bei Austrian Standards tätig, davon war er 21 Jahre Director Standards Development.

Die Abteilung Standards Affairs bei Austrian Standards hat die Aufgabe, die nationale und internationale Vernetzung und Zusammenarbeit in Bezug auf die Entwicklung und Anwendung von Standards zu fördern. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der Transformationsagenda von Austrian Standards und sorgt dafür, dass die Organisation in relevanten nationalen und internationalen Standardisierungsprozessen gut vertreten ist.